LICHTBRÜCKE
Praxis für seelische Heilung

2024-01-17

GESCHICHTE ÜBER JAMMERLIEBE

GESCHICHTE ÜBER JAMMERLIEBE

Es war einmal eine wunderschöne Frau. Sie hatte schwarze Haare, tiefschwarzen Augen, wunderschönen dunklen Teint. Die Frau war taubstumm, konnte weder lesen noch schreiben, sie war nicht verheiratet und sie hatte nie in ihrem Leben eine Periode. Und sie war schwanger. Im 6 Monat wurde dieser biologisch unmöglicher Fakt bei ihr festgestellt. Nach der Geburt des Mädchens fragte man sich: Was jetzt?

Als meine Mutter mit dem Baby nach Hause kam, hat ihre 80-jährige Mutter, die selbst Pflegefall war, gejammert: Wie soll es jetzt weiter gehen? Wie soll ihre taubstumme 40-jährige Tochter, die keinen Mann hat, wie wird sie für sich und für das Baby sorgen? Sie schafft das nicht, sie kann das nicht. Sie kann das Kind nicht behalten.

Polen war zu dieser Zeit ein kommunistisches Land und viele Sachen, die heutzutage für uns selbstverständlich sind, waren damals für viele unvorstellbar, z.B∴ dass jede Familie ein Haus oder eine Wohnung für sich hat. Nach dem 2 Weltkrieg, wurden die großen Wohnungen, die aus vielen Zimmern bestanden, geteilt und besiedelt: in jedem Zimmer hat jetzt eine vielköpfige Familie gewohnt. Alle Familien teilten eine gemeinsame Toilette. So hat auch meine Familie gelebt, auf weniger als 30 m2 Fläche waren zusammen : mein Onkel, meine Tante, ihre 8-jährige Tochter, meine Mutter, ihre Mutter und jetzt ich?…

Es gab keinen Platz für mich. Ich wurde in Heim des Kleinen Kindes abgeben. Meine Mutter war dabei. Erst vor ein paar Wochen wurde mir bewusst, dass ich es nicht weiß, wie lange war ich wirklich im Heim und wie lange war meine Mutter mit mir…  Aus Erzählungen habe ich 2-3 Jahre rausgehört. Und ich habe mir immer wieder eine grausame Szene ausgemalt: Ich liege allein im Bettlein, weine, schreie aber meine Mutter hört mich nicht… Das hat mich tief erschüttert.

Was hat das mit mir gemacht? Wie hat sich das in meinem Leben gezeigt?

Wieder abgelehnt, in der Familie nicht gewollt, nicht angenommen, nicht geliebt, ein Außenseiter, für den es keinen Platz gibt… Nicht gehört. Nicht wahrgenommen. Nicht getröstet. Nicht liebevoll umarmt.

Meine Oma starb ein Jahr nach meiner Geburt.

Diese Geschichte hat deutliche Spuren in meinem Leben gelassen. Ich war in meiner Familie immer jemand der nicht dazu gehörte, nicht dazu passte. Als ich älter war, habe ich mitgehört, wie über mich gesprochen wurde: “Ania, córka tej głuchej Irenki”. Was hieß: “Ana, die Tochter der taubstummen Irene”. Ich war gekennzeichnet…

Aus den ganz einfachen Verhältnissen ging ich in weitere Welt hinaus. Dann kam ich nach Deutschland. Und erst hier lernte ich Mangelgefühl und Jammerei…. Und ich jammerte ohne Ende, immer mehr und immer öfter. Ich habe mich nicht wohl gefühlt. Ich war einsam. Nicht gewollt. Nicht gehört. Ich konnte keinen Platz für mich finden. Bis, ich nach vielen Turbulenzen, meinen Weg erkannt habe…

Was macht das mit mir JETZT?

Jahrelang habe ich diese Geschichte als Geschichte der Ablenkung in mir getragen. Als ich gerade noch mal über diese Geschichte nachgedacht habe, kamen unerwartet neue Gedanken: Meine Oma war nicht gegen mich, nicht gegen Witzlingen, sie wollte mich nicht ablehnen. Sie wollte, dass ihre 40-jährige, taubstumme Tochter, die weder lesen, noch schreiben konnte, alleinstehend war, keinen Beruf hatte, weil sie fast ihr ganzes Leben auf dem Bauernhof verbracht hat, jetzt allein zu recht kommt. Sie hatte Angst, dass ihre Tochter das nicht schafft. Und was, wenn sie stirbt, wer wird für sie sorgen… Sie wollte mich nicht verletzen. Sie wollte mich nicht ablehnen. Sie machte sich Sorgen um ihr Kind, das jüngste von 8 lebenden Geschwistern… Sie hat aus der Liebe zu ihrer Tochter gejammert…

Als ich das erkannt habe, war mir leichter geworden und in meinem Herzen spürte ich Freden. Es ist so, als ein schwerer Rucksack, den ich jahrelang mitgeschleppt hatte, jetzt abgefallen wäre … Ich brauche keinen Groll gegen meine Großmutter zu hegen, keine Traurigkeit oder Schmerzen zu tragen. Sie konnte nicht anders. Sie war eine andere Generation. Und sie wusste, wie das Leben schwer sein kann. Zu jener Zeit sprach man nicht über Liebe. Man musste überleben und eigene Familie ernähren.

Jetzt kann ich meiner Oma vergeben und ihr einen würdigen Platz in meinem Herzen geben. Ich bin ihr dankbar für ihr Leben, für ihre Geschichten, für Ihr Schicksal…

15.01.2024, 23.07

Ajna - 19:04:23 | Kommentar hinzufügen

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